multinationale Arbeiterklasse

A: aṭ-ṭabaqa al-ʽāmila mutaʽaddidat al-ǧinsīyāt. – E: multinational working class. – F: classe ouvrière multinationale. – R: mnogonacional’nyj rabočij klass. – S: clase obrera multinacional. – C: duōguó gōngrén jiējí 多国工人阶级

Gerhard Hetfleisch

HKWM 9/II, 2024, Spalten 1582-1589

Eine Vielzahl von Streiks erschütterte zwischen 1969 und 1973 die Fabriken Europas. Speerspitze der Streikenden waren die Belegschaften der Autoindustrie, darunter jene der Fiat-Werke in Turin, dem Zentrum der italienischen Arbeits- und Lohnkämpfe während und in der Folge des ›Heißen Herbstes‹ von 1969. Nanni Balestrini hat in seinem 1971 erschienenen Roman Vogliamo tutto (dt. Wir wollen alles, 1972) den Arbeitskämpfen bei Fiat und bes. dem Widerstand der süditalienischen Arbeitsmigranten ein literarisches Denkmal gesetzt.

In der BRD manifestierte sich in den ›spontanen Streiks‹ in Betrieben der Automobil-, Stahl- und Chemieindustrie zwischen 1969 und 1973 eine »praktische Kritik« nicht nur an der »kapitalistischen Organisation der Produktion«, sondern auch an der »offiziellen Tarifpolitik« korporatistischer Gewerkschaftsspitzen im Rahmen der ›Konzertierten Aktion‹ ab 1967 (Müller-Jentsch 1974, 44). Zugleich vollzogen Teile der radikalen Studentenschaft nach den Revolten von 1968 die ›Proletarische Wende‹: Sie verlagerten ihren politischen Aktivismus in die Betriebe und orientierten sich dabei am italienischen Operaismus. Zudem benötigte die industrielle Massenproduktion der tayloristisch organisierten Großfabrik einen neuen Typ des Arbeiters, den das Arbeitskraftbegehren des Kapitals seit Beginn der 1960er Jahre zunehmend im ›Gastarbeiter‹ fand, der der mobilen Reservearmee aus den südlichen und südöstlichen Randzonen Europas und den ehemaligen Kolonialgebieten entstammte. Der Zuzug veränderte die Zusammensetzung der Belegschaften in den Fabriken gründlich. Der ›multinationale Massenarbeiter‹ der fordistischen Industrie – der typische Bandarbeiter, der in der Regel ein Arbeitsmigrant war – formte den Kern der mA. In operaistischer Perspektive und Diktion galt diese als ›Avantgarde‹ zukünftiger Massenkämpfe.

Die aufkommende Rede von der mA war also eingewoben in die Renaissance der Klassenkämpfe in den entwickelten Gesellschaften des westeuropäischen Kapitalismus Ende der 1960er Jahre und die durch Arbeitsmigration bedingte Neuzusammensetzung der Belegschaften in der fordistischen Industrie. Der Term impliziert, durchaus euphemistisch, eine solidarische Konstitution der aus verschiedenen Nationalitäten sich zusammensetzenden arbeitenden Klasse im betrieblichen Konflikt. Er beschreibt einen autonomen Kampf der Belegschaften, die jenseits gewerkschaftlicher Organisation für ihre Interessen kämpfen.

Das Konstrukt einer mA wurde prägend für die Klassenauseinandersetzungen der ersten Hälfte der 1970er Jahre, in denen informelle Kampfmaßnahmen, spontane Streiks und Betriebsbesetzungen praktiziert wurden. Steve Wright führt dies darauf zurück, dass »Arbeitsmigrantinnen und -migranten Kampferfahrungen über ganz Europa und darüber hinaus [verbreiteten] und […] damit ihren Teil zu einem internationalen Kampfzyklus bei[trugen], wie es ihn seit den Jahren unmittelbar nach 1917 nicht mehr gegeben hatte« (2002/2005, 149). Die Vorstellung einer mA spielte nicht nur in der BRD eine gewichtige Rolle, sondern z.B. auch in den Fabriken in der Schweiz (vgl. Arbeiterkämpfe in der Schweiz, 1974) und Frankreich sowie in den Bergwerken Belgiens.

Als Kampfbegriff ist der Term mA auf eine kurze Phase fordistisch-kapitalistischer Entwicklung beschränkt, die mit der sich 1973 abzeichnenden Weltwirtschaftskrise und beginnenden kapitalistischen Restrukturierung ihren Höhe- und zugleich Endpunkt erreichte. Die ›multinationale Betriebsarbeit‹ wurde meist mit dem Abebben der Kämpfe 1973 aufgegeben; viele Aktivisten gingen zur ›multinationalen Stadtteilarbeit‹ über.

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m/multinationale_arbeiterklasse.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/05 23:28 von christian     Nach oben
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