Kapitalismus
A: arra’smāliyah. – E: capitalism. – F: capitalisme. – R: kapitalizm. – S: capitalismo. – C: zibenzhuyi 资本主义
Wolfgang Küttler
HKWM 7/I, 2008, Spalten 238-272
K‹ bezeichnet zum einen die auf Warenproduktion, Marktwirtschaft, Investition von Kapital, Lohnarbeit und Profit beruhende Produktionsweise, zum anderen die von der Herrschaft des Kapitals bedingten sozialen, politischen, rechtlichen und kulturellen Verhältnisse als Gesellschaftsordnung. Obwohl Marx das Wort nur selten und in dieser umfassenden Bedeutung erst spät gebrauchte, besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass er den Begriffsinhalt in beiden Hinsichten, als Modell einer Wirtschafts- und zugleich einer dieser entsprechenden Gesellschaftsordnung, aber in praktischer Orientierung auch als »Kampfbegriff der Arbeiterbewegung und des Sozialismus« wesentlich geprägt hat (Brockhaus 1990).
Indem Marx seine Prognose der sozialen Revolution des Proletariats aus der KrpÖ als der »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft« (Vorw 59) begründet, verbindet er die ökonomische Untersuchung der Produktionsweise mit einer allgemeinen gesellschafts- und geschichtstheoretischen Kritik des daraus resultierenden Gesellschaftszustandes. Kapitalistische Produktionsweise und bürgerliche Gesellschaftsordnung werden als historisch besondere Einheit in einer aus ihren inneren Widersprüchen resultierenden transformatorischen Perspektive gesehen. Diese kritisch gesellschaftstheoretische Betrachtungsweise ist für die Entwicklung der marxistischen K-Auffassung konstitutiv, wenngleich sie mit sehr unterschiedlichen Interpretationen der Beziehung zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr bedingten gesellschaftlichen Verhältnisse im Zusammenhang einer Gesellschaftsformation einhergeht.
Die wachsende Diskrepanz zwischen dem revolutionären Ziel der Überwindung und der über alle Krisen hinweg ungebrochenen Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit des K stellt die von Marx begründete kritische K-Theorie, die Einheit von Analyse und praktischer Orientierung (vgl. Elend), vor immer neue Herausforderungen. Insofern hängt die Problemgeschichte des Begriffs eng mit realgeschichtlichen Umbrüchen seit der Mitte des 19. Jh. zusammen. Wesentliche Veränderungen resultierten bereits aus den Erfahrungen der europäischen Revolutionen 1848/49, der nationalstaatlichen Ausformung und weltweiten Ausbreitung des Industriekapitalismus (Engelberg/Küttler 1978, Kap. II u. III). Weitere Einschnitte sind Imperialismus, Revolutionen und Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jh., der Kalte Krieg und die Konfrontation bzw. der Wettbewerb der Gesellschaftssysteme, schließlich das ›goldene Zeitalter‹ (vgl. Lipietz 1998) des Fordismus in den 1950er bis 70er Jahren, dem die Krise des Fordismus und die sog. ›Globalisierung‹, d.h. der neoliberal betriebene Übergang zum »transnationalen High-Tech-Kapitalismus« (vgl. Haug 2003) ein Ende bereiteten.
Die sich weitende Kluft von Realgeschichte und Untergangsprognose des K erschien einerseits als eine Frage der Verzögerung, Ausweitung und Differenzierung eines kurz- oder mittelfristig bevorstehenden (Engels 1895; Luxemburg 1913) bzw. schon einsetzenden Revolutions- und Übergangsprozesses (Lenin 1921). Andererseits setzten ›Revisionismus‹ und ›Reformismus‹ auf eine evolutionäre Transformation durch die Arbeiterbewegung und die Wandlungen innerhalb des K (Bernstein 1899). Entsprechend erschienen die jeweils aktuellen Formwandlungen und Phasenwechsel (Monopol-K und Imperialismus, staatsmonopolistischer K, Fordismus) als fortschreitende Herausbildung eines finalen Krisenprozesses der Formation, der auf dem Wege der revolutionären Beseitigung oder des reformerischen Wandels zur Transformation führen würde. Seit 1917 trat der sich als internationales System entwickelnde Staatssozialismus im Pro und Kontra außer- und innermarxistischer Auseinandersetzungen als eine Gesellschaftsentwicklung jenseits des K in Erscheinung. In seinem offiziellen Epochenverständnis wurde die andauernde Koexistenz mit dem K zunächst optimistisch als weltweit fortschreitender Umwälzungsprozess, später zunehmend defensiv als Vorgang im Rahmen nach- und aufholender Bewältigung der ›wissenschaftlich-technischen Revolution‹ und ihrer Verbindungen mit den ›Vorzügen des Sozialismus‹ gedeutet.
Ungeachtet ihres diametralen Gegensatzes kam es mit der Verbreitung des Marxismus in der Arbeiterbewegung zu einer intensiven Wechselwirkung zwischen marxistischer und bürgerlicher Theorie. Bei einigen der ›Kathedersozialisten‹ und bes. der Vertreter der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie, so v.a. bei Max Weber und seiner Rezeption, gehen Konfrontation und systemimmanente Rezeption Hand in Hand (Nau 1997). Nach dem Zweiten Weltkrieg dominieren Kompensations- und Gegenkonzepte, in denen mit »Umschreibungen […] wie ›freies Unternehmertum‹ oder ›marktwirtschaftliches System‹« der »Fluch vom Begriff ›K‹« genommen werden soll (Sennett 2000). Kennzeichnend bleibt dabei das Bestreben, K als umfassend gesellschaftskritischen Begriff durch »viele rivalisierende Interpretationen« zu ersetzen, um eindeutige Wesensbestimmungen aktueller Gesellschaften unmöglich zu machen bzw. als »Erlösungsentwürfe oder Zukunftsprophezeiungen« zurückzuweisen (Pongs 2000).
Mit der hochtechnologischen Produktivkräfterevolution und dem damit weltweit einhergehenden »Erdrutsch« seit dem letzten Drittel des 20. Jh. (Hobsbawm 1994) – sowie dem Zusammenbruch des ›sozialistischen Lagers‹ als Folge und beschleunigender Impuls zugleich – hat sich der Bezugsrahmen, in dem das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem bisher im Pro und Kontra betrachtet wurde, erneut grundlegend verändert. Obgleich mehr denn je von krisenhaften, z.T. katastrophischen Tendenzen gezeichnet, erscheint es ohne reale Alternative (Fulcher 2007). Die Auseinandersetzung um K wie um künftige Gesellschaftsgestaltung ist damit aber nicht zu Ende, sondern eher neu eröffnet. Das gilt bes. für die Aktualität der K-Kritik von Marx. In vieler Hinsicht wird sie durch die neuesten Entwicklungen bestätigt, und »der Schatten von Marx« (Bradford DeLong 2008) fällt ein ums andere Mal auf den K »nicht nur als ökonomisches, sondern auch als politisches und kulturelles System« (McChesney 1999). Luc Boltansky und Eve Chiapello begründen ihre Studie zum »neuen Geist des K« mit der Hilf- und Orientierungslosigkeit der Sozialkritik »angesichts einer sozialen und wirtschaftlichen Lebenssituation, die sich für immer mehr Menschen verschlechterte, während gleichzeitig ein völlig neuartiger K immer weitere Kreise zog« (2003).
So kritisch die Folgen der ›globalisierten‹ Kapitalherrschaft als Existenzfragen der Zivilisation auch diskutiert werden, erscheinen die von Marx gezogenen Konsequenzen, dass die Klasse des modernen Industrieproletariats den Untergang des K herbeiführen werde, dennoch als utopisch, so nahe die revolutionäre Arbeiterbewegung diesem Ziel einst zu sein schien. Die in vieler Hinsicht erstaunliche »Präzision« des Manifests »in der Vision eines – damals noch weit in der Zukunft liegenden – wahrhaft globalisierten K« kontrastiert mit dem Ausbleiben seiner von Marx daraus gefolgerten Aufhebung (Hobsbawm 1998). Die Fragwürdigkeit aller Untergangsprognosen für den K, während die existenzielle Dringlichkeit einer ›anderen Welt‹ jenseits globaler Kapitalherrschaft mehr denn je besteht, bildet den kritischen Punkt einer politischen und theoretischen Anknüpfung. Das Verhältnis von Formation und Transformation ist unter diesen Bedingungen als Grundfrage einer marxistischen K-Theorie neu gestellt.
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