Kommunismus
A: šuyū‛iyah. – E: communism. – F: communisme. – R: kommunizm. – S: comunismo. – C: gongchan zhuyi 共产主义
André Tosel
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1298-1333
Mit dem Ende der Sowjetunion schien das Schicksal des K besiegelt. Dem stalinschen Terror und dem autoritären Stillstand der auf Stalin folgenden Phase folgte das Scheitern der Reformversuche Gorbatschows, schließlich die Restauration eines auf andere Weise autoritären Staatskapitalismus. Die Auflösung des sozialistischen Blocks und der SU nach 1989 haben Russland auf Grenzen zurückgeworfen, die deutlich enger gezogen sind als unter Peter dem Großen, v.a. nach der Lossagung der Ukraine und Georgiens. Für viele scheint klar, dass der K im Denken von Marx und der historische K, der sich auf ihn berufen hat, entweder ihre Verwirklichung in einem Typ totalitärer Gesellschaft gefunden oder aber sich als nicht zu verwirklichende Utopie herausgestellt haben. In beiden Fällen hat er in dieser Sicht seine Unmöglichkeit bewiesen. Die Vorstellung einer geschichtlichen Bewegung hin zum K fand sich auf einen Schlag ausgelöscht und landete auf dem Kehrichthaufen der Geschichte. Wie jedes bürgerliche Wörterbuch sagen würde, ist der K eine der drei Ideologien, die die moderne Welt geprägt haben. Er hat versucht, den Liberalismus zu kritisieren und in Richtung einer egalitären Vergesellschaftung zu überschreiten; und er bildete das Gegenstück zur konservativen Kritik am Liberalismus, die die Tradition des Ancien Régime verteidigte. Der Liberalismus in seiner doppelten, ökonomischen und politisch-ethischen Ausprägung blieb der Hauptbezugspunkt. Wie Benedetto Croce bemerkte, ist der Liberalismus seit dem 19. Jh. die zentrale Weltauffassung im Sinne einer weltlichen »Religion der Freiheit« (1932/1993, Kap. 1), und er ist es, der seine Kritiker – linke und rechte – zwingt, sich im Verhältnis zu ihm zu definieren.
Croce sah einerseits ein Verschmelzen von Sozialismus und K, andererseits ein Aufgehen des Konservatismus im Liberalismus voraus. Angesichts der Krise des Kapitalismus und der liberalen Demokratien unterm Druck des stalinschen K und des Nazi-Faschismus war eine solche Prognose verwegen. Sie hat nach 1989 an Geltung gewonnen, insofern der Liberalismus bald sozial, bald autoritär auftreten kann, während der Konservatismus gezwungen ist, sich als liberaler Konservatismus, der Sozialismus als liberaler Sozialismus darzustellen. Und doch muss man sich die dem K bei Marx und Engels ursprünglich eingeschriebene Herausforderung vergegenwärtigen, um zu ermessen, was in der sozialistischen und dann, im ›kurzen 20. Jh.‹ von 1917 bis 1989, in der kommunistisch sich nennenden Bewegung daraus wurde.
Der historische K hat während eines knappen Jahrhunderts den Erfolg und das Scheitern des seit dem Christentum größten Versuchs einer Veränderung der Welt verkörpert, die anfänglich die beherrschten und erniedrigten Massen mobilisiert hat. Geboren aus der Katastrophe eines Krieges, der mit beispielloser Barbarei die größten Nationen der sog. zivilisierten Welt gegeneinander in Stellung gebracht hatte, speiste sich der K aus der Kritik an den großen sozialdemokratischen Parteien, die kapituliert hatten und sich von den kapitalistischen und imperialistischen Eliten nationalistisch-korporatistisch einverleiben ließen. Dieser K hat in einer inzwischen beendeten Tragödie das Engagement eines politisch-ethischen Idealismus, der zu gewaltigen Opfern bereit war, und eine zynische Politik, die massenhafte Verbrechen legitimiert hat, aufeinander folgen lassen. Er kann nicht Marx angelastet werden, der die Befreiung der Individuen und die der Gesellschaft stets miteinander verbunden hat und der auf eine radikale Demokratisierung der bürgerlichen Demokratie in einer »Assoziation« freier Produzenten zielte (Manifest). Gleichwohl haben die Komplexität und die Mehrdeutigkeit der marxschen Kritik der modernen Gesellschaft widersprüchliche Interpretationen erlaubt sowie theoretische Widersprüche unter der aufgeklärten Begeisterung bestehen lassen, die der Glaube an ein Zusammenwirken von theoretischer Kritik und Praxis der Arbeiterbewegung erzeugt hatte.
Da Begriff und Sache dieses ›K‹ verschwunden sind, muss die relative Abtrennung des Sozialismus vom K beleuchtet werden, die dazu führte, dass der K über einen nebulösen Protosozialismus nicht hinauskam. Zudem muss das K-Verständnis von Marx ausgelotet werden, ohne dabei Engels zu vergessen. Später durchläuft die kommunistische Idee den sozialistischen Kollektivismus der II. Internationale mit ihren Spaltungen in Revisionisten und Orthodoxe, Reformisten und Revolutionäre. Erst die Oktoberrevolution von 1917 setzt den K auf die Tagesordnung und begründet seinen Unterschied zum Sozialismus. Von nun an gerät die kommunistische Theorie in die Probleme des sog. revolutionären Übergangs hinein, ohne zum Gegenstand umfassender Reflexion zu werden. Mit Lenin und dem Aufbau des Sozialismus in einem Lande als Vorbereitung auf den weltweiten K steht der K auf dem Prüfstand, vom anfänglichen Erfolg über den Stalinismus bis zur schließlichen Niederlage. Die Weigerung, K mit Bolschewismus oder Stalinismus gleichzusetzen, findet ihren Ausdruck in der utopischen Kritik vom Standpunkt der Rätebewegung und in der Parteinahme für den Massenstreik von Rosa Luxemburg bis Karl Korsch, Anton Pannekoek und noch Peter von Oertzen. Im Hauptstrom der europäischen Arbeiterbewegung erschöpft sich diese Tendenz schnell. Allein Gramsci versucht, den K zugleich realistisch und dynamisch zu reformulieren, indem er Räte und Partei in der Strategie des hegemonialen Kampfes zusammenbringt. Dies beinhaltet zugleich eine Neufassung der marxschen Theorie und eine intellektuell-moralische Reform – Vorschläge, deren politische Wirkung begrenzt bleiben. Mit der Volksfrontstrategie scheint sich ihnen ein Fenster zu öffnen, aber sie werden durch den Transformismus der Parteien absorbiert, die sich vom Sowjetsystem abzugrenzen suchen und sich eurokommunistisch nennen, ohne sich wirklich erneuern zu können.
Dass es einen historischen K gab, rechtfertigt nicht, auf das Veralten des K schlechthin zu schließen. Der globalisierte Kapitalismus speist erneut eine kommunistische Tendenz. Gleichwohl bleibt das neue Gesicht des K noch relativ gestaltlos, angewiesen auf eine umfassende historische Selbstkritik und ein theoretisches Neuerfinden auf der Suche nach einem Gemeinwohl, das der Vielfalt der menschlichen Verhältnisse gerecht wird und fähig ist, der eigenen Ideologisierung kritisch zu begegnen und auf jegliche Herrschaftsphantasien zu verzichten.
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