Nation
A: ’umma, daula qawmīya. – E: nation. – F: nation. – R: nacija. – S: nación. – C: guó, mínzú, guójiā 国, 民族, 国家
Michael Löwy (RSt) (I.), Carlos Barros (ON) (II.)
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1776-1801
I. N.en sind keine ahistorischen Einheiten, sondern soziale Konstrukte und Ergebnis der Entwicklung von Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft seit dem Ende des Mittelalters. Ein entscheidendes Moment im Prozess der Herausbildung der N sind die bürgerlichen Revolutionen, darunter die Französische, welche die Konstituierung der bürgerlichen N mit der Abschaffung feudaler Privilegien und der Etablierung der Volkssouveränität verbindet. Die Nationenbildung setzt sich im 19. Jh. mit der Unabhängigkeit der Kolonien Lateinamerikas und in Europa mit der Griechenlands (1830) sowie der Vereinigung Deutschlands und Italiens durch eine »passive Revolution« (Gramsci) von oben fort. Gleichzeitig betreiben die meisten europäischen kapitalistischen Staaten – im Namen ihrer ›nationalen Interessen‹ – koloniale Eroberungen in Asien und Afrika, wo sich im 20. Jh. infolge der Befreiung von Kolonialherrschaft neue komplexe Prozesse der Herausbildung von N.en auf oftmals multiethnischer Grundlage vollziehen.
Das Themenfeld der N ist im Marxismus in erster Linie mit der Frage verbunden, wie sich sein internationalistisches Grundanliegen zur jeweils national orientierten Form der Kämpfe verhält. Darin besteht die Substanz der Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Richtungen des Marxismus seit dem Ende des 19. Jh.
II. Produktionsbedingungen und nationale Identität. – Während die deutsche Sozialdemokratie in ihrem Eisenacher Programm von 1869 die nationale Frage noch als eine »rein bürgerliche« (Gallissot 1979, 787) behandelt, begreift der Marxismus seit Ende des 19. Jh. die N als ›Problem‹ oder ›Frage‹, für die eine theoretische und politische Lösung gefunden werden muss. Ihre Dringlichkeit verschärft sich jeweils in Momenten großer historischer Veränderungen. Seit Ende des 20. Jh. taucht das ›Problem der N‹ infolge des Falls der Berliner Mauer und einer rasanten Globalisierung mit enormer Kraft und größerer Komplexität wieder auf.
N.en und nationale Identitäten sind weder etwas Feststehendes noch etwas Beliebiges, sondern nach Raum und Zeit, Ökonomie und Gesellschaft, Sprache und Kultur spezifizierte Konstrukte. Sie können sowohl Katalysatoren für emanzipatorische Bewegungen sein als auch zur Legitimation von Herrschaft und Unterdrückung im Innern wie auch von Expansion und Krieg nach außen dienen. Auch wenn die nationale Gemeinschaft, der wir angehören, uns als etwas ›Natürliches‹ erscheint, ist sie doch ein Gewordenes, das nicht nur aus sozioökonomischen und kulturellen Bindungen, sondern auch aus affektiv gegründeten und wirkmächtigen Überzeugungen resultiert. Der in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den 1970er Jahren einsetzende Übergang zur Problematik der ›nationalen Identität‹ hat auch für marxistische Ansätze den Vorteil, dass man von der politisch-konzeptionellen Behandlung der ›nationalen Frage‹ zur Suche nach einer Lösung kommt, die Objektives wie Subjektives des nationalen Phänomens umfasst. Dabei ist der Rückgriff auf Marx und Engels umso hilfreicher, als sie die historisch-materialistische Basis der Gesellschaften in Wechselwirkung mit Bewusstsein und Politik zu fassen versuchen. Dadurch erst werden nationale Gegebenheiten verständlich, die sonst immer wieder auf den Bereich der Ideen und Gefühle reduziert werden.
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