Identifikation
A: at-tamāhi. – E: identification. – F: identification. – R: identifikacija. – S: identificación. – C: jianbie 鉴别
Stuart Hall (FH) (I.), Jane Gaines (ThB) (II.)
HKWM 6/I, 2004, Spalten 646-653
I. I ist einer der unklarsten Begriffe, fast so heikel wie der Begriff ›Identität‹, wiewohl diesem trotz aller begrifflicher Schwierigkeiten vorzuziehen. Der Term nimmt Bedeutungen aus diskurstheoretischem wie psychoanalytischem Lager auf, ohne sich auf eins zu beschränken. Das semantische Feld ist komplex und schwer aufzuschlüsseln, es gibt aber bald die Relevanz dieser Forschungsaufgabe zu erkennen: In der Alltagssprache bedeutet I, seine Abstammung kenntlich zu machen, oder verweist auf Eigenschaften, die man mit einer anderen Person oder mit Gruppen teilt; ferner auf die Übereinstimmung mit einem Ideal und den natürlichen Schluss, Solidarität und Bindung auf dieser Grundlage zu etablieren. Im Gegensatz zum ›Naturalismus‹ dieser Definition sieht der diskurstheoretische Ansatz I als Konstruktion, als niemals abgeschlossenen Prozess. I ist nicht determiniert in dem Sinn, dass sie ›gewonnen‹ oder ›verloren‹, festgehalten oder verlassen werden kann. Wenn auch nicht frei von determinierenden Existenzbedingungen, einschließlich der materiellen und symbolischen Ressourcen, ist I letztlich kontextabhängig, in Kontingenzen verstrickt. Wo sie erreicht ist, ist Differenz gleichwohl nicht verschwunden. Die totale Verschmelzung, die I nahelegt, ist eine Vereinnahmungsphantasie. Sigmund Freud spricht in diesem Kontext von »einverleiben« oder »Introjektion« (GW 13; SA XI). I ist ein Artikulationsprozess, eine Überdeterminierung, keine Subsumtion. Immer resultiert ein ›Zuviel‹ oder ›Zuwenig‹, eine Überdetermination oder ein Mangel – niemals passt es richtig, nie wird es ein Ganzes. Wie alle kennzeichnenden Praxen, ist I dem ›Spiel‹ der différance unterworfen, sie gehorcht der Logik des ›Mehr-als-Eins‹. Und weil I als Prozess sich gegen Differenz richtet, erfordert sie Diskursarbeit, das Ziehen und Kenntlichmachen symbolischer Grenzen, die Produktion von ›Grenz-Effekten‹. I braucht das Ausgelassene (left outside), sein konstitutiv Äußeres, um den Prozess zu konsolidieren. Aus seinem psychoanalytischen Gebrauch erhält der Begriff ein reiches semantisches Erbe. Freud spricht von I (»Identifizierung«) als »frühester Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person« (…).
II. Im Begriff der I überkreuzen sich politische und psychologische Fragen mit solchen nach der Rezeption fiktionaler Welten im Buch, Film, Computerspiel etc. Auffällig ist die Nähe der alltagssprachlichen Verwendung zur wissenschaftlichen und kritischen Terminologie. ›Einfühlung‹ und ›Nachahmung‹ werden auch von Sigmund Freud (GW II/III, ; SA II) synonym mit I bzw. Identifizierung gebraucht. Obwohl er mit seiner Bestimmung von I nie richtig zufrieden war (Laplanche/Pontalis 1972), hat sich keine andere theoretisch ausgerichtete Bezeichnung herausgebildet. So benutzen Kulturkritik und Psychoanalyse das gleiche Wort, um über eine bestimmte Art der Beziehung zu sprechen, die Menschen sowohl zueinander wie als Leser zu einer Romanfigur oder als Zuschauer zu einer Figur in einem beliebten Film unterhalten.
Für I gibt es kaum Synonyme, und Umschreibungen neigen zur Tautologie, die Roland Barthes’ Bestimmung zeigt: »Die I nimmt keine Rücksicht auf Psychologie; sie ist reine strukturale Operation: ich bin derjenige, der denselben Platz einnimmt wie ich.« (1984) ›Sich zu identifizieren‹ kann auch heißen: seinen Ausweis zeigen zum Beweis, dass die Identität der Person mit dem Dokument übereinstimmt, welches diese Identität bestätigen soll (identity card). Als Nahtstelle zwischen Individuum und Gesellschaft bleibt I immer umkämpft.
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