Freudomarxismus
A: al-fruydīya al-mārksīya. – E: Freudo-Marxism. – F: freudomarxisme. – R: frejdo-marksizm. – S: marxismo freudiano. – C: fuluoyide-makesi zhuyi
Richard Lichtman (MM)
HKWM 4, 1999, Spalten 1008-1026
Die Bemühungen um eine Synthese von Marx und Freud entstanden in einer historisch schwierigen Situation: dem Heraufkommen des Nazismus in Deutschland und später der Perversion der kommunistischen Revolution in der Sowjetunion. Der Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches nach dem Ersten Weltkrieg und das Erstarken einer sozialistischen Opposition nährten die Hoffnung, dass der in Russland schon herrschende Kommunismus in der Lage sei, sich auch im Westen durchzusetzen. Als aber in Deutschland und anderen Ländern der Faschismus die Oberhand gewann und der Sowjet-Kommunismus zu Staatsterrorismus degenerierte, war die marxistische Bewegung grundlegend verunsichert. Nicht nur, dass die allgemeine Vorstellung von der Unvermeidlichkeit eines Sieges des Marxismus massiv getroffen war – die Arbeiter (in Deutschland) schienen sich an ihrem eigenen Untergang zu beteiligen, indem sie ihre Interessen durch mörderische Kämpfe untereinander oder durch die direkte Unterstützung des Faschismus aufgaben.
Hier schien Sigmund Freud ein Verständnis individueller Pathologie und der dunklen Seite menschlicher Natur zu ermöglichen. Selbst-Schädigung, Autoritätsunterwerfung, Todestrieb und Selbstverstümmelung waren zentral für seine pessimistische Sicht, für die er die Ereignisse in Deutschland und der Sowjetunion als Bestätigung sah. Marxistische Theoretiker wie Wilhelm Reich und die Mitglieder der Frankfurter Schule sahen sich im Lichte dieses Urteils über menschliche Perversion und Irrationalität vor der Notwendigkeit, ihr marxistisches Verständnis historischer Entwicklung zu überdenken. Unvermeidlich schien die Schlussfolgerung, dass die Geschichte nicht nur Ergebnis ökonomischer Entwicklungen sei, sondern Resultat kollektiven Handelns. Es schien erwiesen, dass Marx eine falsche Vorstellung der menschlichen Natur gehabt und sich auf optimistische Annahmen der Aufklärung gestützt habe, die sich im Laufe des 20. Jh. zunehmend als Wunsch denn als Realität erwiesen hätten.
Die Frage, ob dies zutrifft, ist ohne Bezug auf eine Theorie des menschlichen Subjekts nicht zu beantworten. Gelegentlich scheint Marx Individuen auf gesellschaftlich-historische Kräfte zu reduzieren. Gleichwohl hatte er, seit er darauf insistierte, dass »gesellschaftliche Individuen« den Ausgangspunkt aller gesellschaftlicher Analysen ausmachten (Gr), eine weitergehende Vorstellung von Individuen, die aber im Gegensatz steht zum »Individualismus« im Sinne der Überzeugung, dass die individuelle menschliche Natur Vorrang vor der Gesellschaft besitze und als davon unabhängiges Wesen existiere. Für Marx ist die Theorie des Individualismus selber gesellschaftliches Produkt, eine Ideologie, die nur unter spezifischen historischen Umständen entstehen konnte (vgl. MEW 1). Da aber Gesellschaft nur durch das kollektive Handeln der Individuen verändert werden kann, dient die ideologische Auffassung, dass Individuen unabhängig und für ihre Fehler selber verantwortlich sind, dazu, potentielle Kritik an der Gesellschaft und ihren Herrschaftsmechanismen zum Schweigen zu bringen.
Gerade weil Marx an der Bedeutung des Ideologischen festhielt, pflichtete er – von einigen Festreden abgesehen – nicht der simplen Auffassung bei, dass der Kapitalismus per se dem Untergang geweiht sei und zwangsläufig durch eine sozialistische Revolution beseitigt werde. Dennoch hat er nie die Sicht der Aufklärung auf die menschliche Natur kritisch diskutiert – die Vorstellung, dass Männer und Frauen, wenn sie ihre Situation nur richtig verstünden, Emanzipation statt Fortdauer von Herrschaft wählten, dass sie, wüssten sie nur um ihre Ketten, sich dieser entledigen würden. Marx konnte nicht zu der wirklich beunruhigenden Auffassung Freuds gelangen, dass Menschen oft nicht ihre Freiheit oder ihr Glück suchen, sondern aus ihnen selber unzugänglichen Gründen ein Regime von Selbstkränkung, Erniedrigung und Leid über sich selber errichten.
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