Frieden
A: as-salām. – E: peace. – F: paix. – R: mir. – S: paz. – C: heping
Dieter Herms, Jürgen Nieth
HKWM 4, 1999, Spalten 1026-1031
Dem Begriff sind mindestens zwei Grundbestimmungen immanent: 1. positiv definiert, als Form und Inhalt eines harmonischen Zusammenlebens von Menschen und Völkern; 2. negativ definiert, als ein Zustand des Nichtkrieges, als Gegensatz zum Krieg oder als Abwesenheit desselben.
Die erstgenannte Vorstellung, die sich seit der griechischen Philosophie durch die Weltgeschichte der Ethik, die Weltliteratur und alle Religionen zieht, hebt den F in den Rang eines ›höchsten Guts‹, eines Zustands, aus dem Glück und Wohlergehen für alle fließen. Konzeptionen aus dem 11. Jh. wie die des ›Gottesfriedens‹ oder des ›Volksfriedens‹, auch des ›Landfriedens‹, zielten auf eine friedliche Entwicklung der Produktion und des wirtschaftlichen Lebens. Im Zeitalter des Humanismus galten F und Gerechtigkeit als bedeutende Eckpfeiler eines erfüllten menschlichen Zusammenlebens. Aus christlichem und idealistischem Pazifismus entwickelten sich Vorstellungen eines unbedingten und uneingeschränkten F-Gebots.
Der ex negativo definierte F-Begriff, der auf die Überwindung von Krieg abzielt, ist aus marxistischer Sicht an die Kategorie der menschlichen Arbeit gekoppelt. Damit fällt der Arbeiterklasse bzw. den unter der Führung von Arbeiterklassen stehenden Völkern die Aufgabe zu, F zu schaffen, den Krieg abzuschaffen. Nur die Arbeiterklasse sei fähig, »im Gegensatz zur alten Gesellschaft mit ihrem ökonomischen Elend und ihrem politischen Wahnwitz« eine Gesellschaftsordnung herzustellen, »deren internationales Prinzip der Friede sein wird, weil bei jeder Nation dasselbe Prinzip herrscht – die Arbeit!« (…). Das strategische Produkt eines Bündnisses der Arbeiterklassen zur Überwindung des Krieges wird am Beispiel des Deutsch-Französischen Kriegs entwickelt.
Gegenüber Marx’ allgemein-theoretischer Grundposition einer Verknüpfung von Arbeit und F erhält die F-Problematik im Zeitalter des Imperialismus vor 1914 eine entschieden politisch-praktische Dimension. Im Kontext des Boxeraufstands/Chinakriegs entfaltet Rosa Luxemburg ihre F-Vorstellungen, die dann im unmittelbaren Vorfeld des Ersten Weltkriegs vertieft und präzisiert werden. Der Militarismus, der im Gesamtkomplex imperialistischer Weltpolitik nur die komplementäre Erscheinung kolonialer Expansion darstelle, wird als »Todfeind aller Kultur« (Reden) bewertet. Der Allianz imperialistischer Reaktion müsse »das Proletariat eine internationale Protestbewegung entgegensetzen« (…). Der Militarismus als »der konkreteste Ausdruck des kapitalistischen Klassenstaates« (…) könne nur durch die Abschaffung dieser Wirtschaftsordnung bekämpft werden. Ansonsten bleibe »der Weltfriede eine Utopie« (…). Die enge Verflechtung von Kriegstreiberei und kapitalistisch verfasster Demokratie wird im »Verfall des Parlamentarismus« (…) konstatiert.
Den kantschen Begriff des »ewigen F« rezipierend, entwickelt Luxemburg die Antagonismen von Kapital und Kultur, Militarismus und Bildung, Krieg und F. »Heute, wie schon seit langer Zeit, lechzt der deutsche Arbeiter, lechzen durch uns erweckte Arbeiterfrauen nach Kultur, nach Bildung, nach Wissen […]. Und da erklärt ihnen ein öffentlicher Vertreter des Staates, der Lebensnerv des Staates, das ist nicht die Hebung der Volksbildung, das ist nicht geistige Kultur, das ist der Kadavergehorsam des Soldaten.« (…) Dem blutigen Massenmord wird, »der menschlichen Natur« entsprechend, der »Kulturfortschritt« im 20. Jh. entgegengesetzt, wonach »alle Völker und Rassen der Erde mit brüderlich friedlicher Solidarität gemeinsam die menschliche Kultur vorwärtstreiben« (…). Aus der Zusammenschau von Sozialismus und F unterstützt Luxemburg das »alte Programm der Sozialdemokratie«, das System der Volkswehr oder Miliz, die Volksbewaffnung, worin der einzelne die Freiheit habe zu entscheiden, wann er das Vaterland verteidigen wolle. In Brennende Zeitfragen hat sie angesichts der »Farce von Stockholm« 1917 noch einmal verdeutlicht, dass »der F ein Werk des internationalen Proletariats und seiner revolutionären Aktion« ist (…).
Während des Ersten Weltkriegs vertritt Lenin als Struktur der F-Schaffung (»Beendigung der Kriege, F unter den Völkern, Aufhören von Raub und Gewalt – das ist fürwahr unser Ideal«, Die Frage des Friedens [1915]) die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg, schließlich die proletarische Revolution. Dies ist wie auch bei Luxemburg als revolutionäre Strategie zu unterscheiden von den F-Bemühungen der II. Internationale von 1914. Die F-Sehnsucht der Massen deutet Lenin als Symptom »für die beginnende Enttäuschung über die bürgerliche Lüge von den ›Befreiungs‹zielen des Krieges, von der ›Vaterlandsverteidigung‹ und über den sonstigen Betrug, den die kapitalistische Klasse am gemeinen Volk verübt« (…).
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