Fidelismus

A: kāstruwīya. – E: fidelism. – F: fidélisme. – R: fidelizm. – S: fidelismo, castrismo. – C: feidaili-kasiteluo zhuyi

James Petras (BF)

HKWM 4, 1999, Spalten 420-427

In Kuba fand die erste sozialistische Revolution in der westlichen Hemisphäre, der historischen Einflusssphäre des US-amerikanischen Imperialismus statt. Es war außerdem die erste sozialistische Revolution, die nicht von einer kommunistischen Partei angeführt wurde – die »Bewegung des 26. Juli«, die an der Spitze der Kämpfe stand, war keine revolutionäre Partei, sondern eben eine politische Bewegung. Schließlich wurde die kubanische sozialistische Revolution anders als ihre Vorgängerinnen ohne Orientierung an einem größerem Korpus revolutionärer Theorie vollendet, und die anfänglichen revolutionären Leitsätze und Forderungen hatten überdies keinen ausdrücklich marxistischen Inhalt.

Der wichtigste Kopf und militärische Führer der erfolgreichen Guerillaarmee war Fidel Castro. Er und die »Bewegung des 26. Juli« waren zu Beginn der Kämpfe Nationalisten und Demokraten, die das Ziel verfolgten, die tyrannische Batista-Diktatur abzuschaffen und den übermächtigen Einfluss der Vereinigten Staaten zu beenden. Die aufständische Anfangsphase der Revolution war schließlich ohne Unterstützung durch die UdSSR oder Chinas erfolgreich (die sowjetisch orientierte KP hat sich fast bis zuletzt gegen die Revolution gestellt und Castro als »Putschisten denunziert«; Ainsworth 1986). Von der Übernahme der Macht bis zur Sozialisierung der strategischen Bereiche von Produktion und Distribution dauerte es weniger als vier Jahre – eine gegenüber allen früheren sozialistischen Revolutionen beispiellose Gangart beschleunigter Transformation (vgl. Boorstein 1968).

Diese Merkmale definieren den spezifisch ›kubanischen Weg zum Kommunismus‹ und finden ihren eloquentesten und kohärentesten Ausdruck in den von Fidel Castro auf Massenveranstaltungen oder politischen Konferenzen gehaltenen Reden. Geprägt sind diese Reden durch eine revolutionäre Praxis, die beständig mit den Versuchen der USA konfrontiert war, die revolutionäre Regierung zu stürzen und vom Rest Lateinamerikas zu isolieren (vgl. Zeitlin/Scheer 1963). Auch dadurch, dass der F auf solcherart die Entwicklung der Realität reflektierenden Reden und weniger auf theoretischen und historischen Studien der sozialen Prozesse in Kuba basiert, stellt er einen Einschnitt in die Tradition von Marx, Lenin, Trotzki und Mao dar. Diese ›verbale‹ Spezifik des F resultiert zum einen aus der Notwendigkeit, die Bevölkerung direkt anzusprechen; zum anderen war Castro kein systematischer Theoretiker, sondern ein Führer, der allgemeine marxistische Konzepte kreativ auf spezifische Einzelsituationen anwandte. Darin kommt ein weiterer Unterschied zur sowjetischen Richtung des ML zum Ausdruck: der F ist wesentlich ›induktiv‹ – er erschließt seine Konzeption eher aus den praktischen Erfahrungen in Lateinamerika als sie von den russischen (oder chinesischen) Revolutionserfahrungen zu ›deduzieren‹. Der F weigert sich, die apriorische Bestimmung der pro-sowjetischen Parteien als Avantgarde der Revolution, wie sie sich im sowjetischen Marxismus findet, zu akzeptieren. Der F stützt sich eher auf pragmatische Kriterien: Diejenigen, welche die Revolution ›machen‹, sind ungeachtet dessen, ob sie sich als Marxisten-Leninisten bezeichnen oder nicht, Revolutionäre. Der F ist insofern ›eklektischer‹; er verknüpft die Forderungen der Bauern nach neuer Landverteilung, Nationalismus (Martí) und Regionalismus (bolívarsche Ideale) mit Marx’ Ansichten zum Klassenkampf und Lenins Analyse des Imperialismus. Derart ist der F weniger eine ›Gebrauchsanweisung‹, die revolutionäre Praxis mittels eines fertigen ›Modells‹ formalisiert, sondern eher ein Kanon leitender Prinzipien, die in der jeweiligen konkreten Situation neu überprüft und an die empirischen Zusammenhänge des anti-imperialistischen und des Klassenkampfes angepasst werden.

Gleichwohl lassen sich eine Reihe von Elementen ›destillieren›, die den Beitrag des F zur revolutionären Theorie kennzeichnen: 1. seine Betonung von Subjektivität im Gegensatz zum Determinismus in der Frage der Herausbildung revolutionärer Bedingungen; 2. seine Betonung der Aktion als Bildungselement revolutionären Bewusstseins im Gegensatz zur revolutionären Doktrin; 3. seine Kritik am ›nationalen Sozialismus‹ und Unterstützung eines revolutionären Internationalismus gegen und hinausgehend über die Theorie des Aufbaus des ›Sozialismus in einem Land‹; 4. seine Zurückweisung von Bündnissen mit der ›progressiven Bourgeoisie‹ in der Frage der Bildung revolutionärer Koalitionen; 5. seine Betonung der Gleichzeitigkeit des Aufbaus von Sozialismus und Kommunismus, statt diese als unterschiedliche und entfernte historische Phasen anzusehen (1.5.1966; Kenner/Petras); 6. seine Hervorhebung ›moralischer Anreize‹ gegenüber ›materiellen Belohnungen‹ bei der Schaffung des ›neuen sozialistischen Menschen‹; 7. die Betonung der Rolle von bewaffneten Vorhuten, die durch beispielhafte Aktionen den Massen deren revolutionäres Vermögen demonstrieren sollen (10.8.1967).

Agrarfrage, Avantgarde, Bauern, Befreiung, Dritte Welt, Fanonismus, Fokustheorie, Gewalt, Guerilla, Guevarismus, internationalistische Bewegung, Kubanische Revolution, Kulturrevolution, Marxismus-Leninismus, nationale Befreiung, Planwirtschaft, Religion, Revolutionstheorie, Sandinismus, Sozialisierung, Sozialismus in einem Land, subjektiver Faktor, Theologie der Befreiung, Voluntarismus

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