Flaneur

A: mutasakki‛. – E: flaneur. – F: flâneur. – R: flanër. – S: hombre callejero. – C: langzi

Magnus Schlette

HKWM 4, 1999, Spalten 548-558

Die Figur des F ist zentral für Walter Benjamins Studien zu seinem unvollendet gebliebenen Projekt einer materialistischen »Urgeschichte des 19. Jahrhunderts«. Wissenschaftsgeschichtlich zählen diese zu der von Simmel begründeten Tradition der Großstadtsoziologie (vgl. Frisby 1989), inhaltlich sind sie einzelnen Motiven im Werk Siegfried Kracauers – zur Pariser Alltagskultur im 19. Jh. (1937) – und Theodor W. Adornos – zur Soziogenese der Existenzphilosophie (1931) – verwandt. Solche Zuordnungen verstellen indes die Einzigartigkeit der benjaminschen Methode und die geschichtsphilosophische Tragweite seiner »Theorie des F« (Briefe). Deren Entwicklung erstreckt sich von der Einbahnstraße (1928) über den Surrealismus-Aufsatz (1929) und die Exposés des Passagen-Werks (1935 und 1939) bis zum Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire (1939) sowie vor allem zu den Konvoluten zum Passagen-Werk selbst, das durch Benjamins frühen Tod über das konzeptuelle Stadium niemals hinausgelangt ist.

Durch Aneignung surrealistischer, aus der Flanerie entwickelter Techniken der Großstadtwahrnehmung will Benjamin zu einer historischen Erkenntnis des 19. Jh. gelangen, die auf »Aktualisierung« (…) abzielt, nämlich »aus dem Leben [und] aus den scheinbar sekundären, verlorenen Formen jener Zeit«, wie sie durch Quellenmaterial überliefert und in städtebaulichen Relikten noch präsent sind, »heutiges Leben, heutige Formen ablesen« (…). Sein Anspruch ist es, »in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken« (…), d.h. aus der Vielfalt des Alltäglichen, das der universalhistorischen Überlieferung entgeht, Paris als »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« (so der Titel des Passagenexposés…) zusammenzusetzen (vgl. Bolle 1994). Über diese epistemologische Bedeutung hinaus ist der F zugleich zentraler Gegenstand der Analysen Benjamins, die ihn als Sozialcharakter der sich rasch entfaltenden kapitalistischen Warengesellschaft im Frankreich des Juste-milieu und des Zweiten Kaiserreichs hervortreten lassen. Der F ist selbst eines jener Einzelmomente, aus denen Benjamin die Totale extrapolieren will – ein Versuch, der formal wie inhaltlich auf eine Konkretisierung des von Lukács unternommenen zielt, die zur Selbstaufhebung treibende Totalität der kapitalistischen Gesellschaft aus der Struktur der Ware zu entwickeln.

Antizipation, ästhetische Abstraktion, Ausdruck, Bild, dialektisches Bild, Einfühlung, Erfahrung, Erinnerung, Faszination, Fetischcharakter der Ware, Fortschritt, Geschichtsphilosophie, Hermeneutik, Imaginäres, Kommodifizierung, Konsumismus, Luxus, Metropole, Mythos, Stadt, Surrealismus, Traum, Wahrnehmung, Verblendungszusammenhang, Verdinglichung, Vorgeschichte, Warenästhetik, Zukunft

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