Entwurf
A: mašru’. – E: project. – F: projet. – R: proekt. – S: proyecto. – C: guihua 规划
Tilman Reitz
HKWM 3, 1997, Spalten 582-590
E wird alltagssprachlich ähnlich wie die Begriffe Plan, Konzept oder Projekt (das lateinische Äquivalent) verwendet, von denen er sich jedoch dadurch abhebt, dass er, ähnlich der Skizze, stärker mit ursprünglicher und noch unausgearbeiteter Erfindung konnotiert ist – der E liegt bereits vor dem detaillierten Ausführungsplan, dem fertigen Konzept oder dem organisierten Projekt. ›Entwerfen‹ dient im Deutschen ursprünglich als Fachbegriff in der Bildweberei (wo er das Gestalten eines Bildes mit dem hin- und hergeworfenen Weberschiffchen bezeichnet, vgl. Herkunfts-Duden), seine heutige Bedeutung erhält es durch Kontamination mit frz. projeter, die es aufs Vor-werfen bzw. Planen erweitert. In dieser Verwendung ist E zunächst im Bereich der bildenden Künste und der Technik angesiedelt (wo heute ›Design‹ ein Äquivalent darstellt), weitet sich jedoch auf Bereiche wie Wissenschaft, Philosophie, Politik und Selbst aus, sobald hier grundsätzliche Innovationen und rahmensetzende Entscheidungen in bewusster Abgrenzung zum Bestehenden zur Regel werden. Homonym kann in der Wissenschaft etwa auch von ›Grundrissen‹ gesprochen werden, wo ein noch auszuarbeitender umfassender Denkansatz gemeint ist bzw. ein neues ›Paradigma‹ auftritt, das, wenn erfolgreich, einen ›Paradigmenwechsel‹ herbeiführt; politisch sind aus Blochs »Grundrissen einer besseren Welt« (…) im Jargon der Leitartikel und Feuilletons die ›Visionen‹ geworden, die angeblich fehlen; schließlich wird der individuelle Lebens-E oder Lebensplan seit den 1970er Jahren am ehesten als ›Selbstverwirklichung‹ gehandelt.
Zu einem Zentralbegriff wird E in der Existenzphilosophie und dem Existenzialismus, wo er eine Grundstruktur menschlichen Daseins fassen soll: Wir sind in eine Welt und ein Leben »geworfen«, zu deren von uns zunächst unabhängiger Bestimmtheit wir uns verhalten müssen; wir entwerfen uns in die Zukunft und vermögen so unser Leben zum eigenen zu machen. Damit ist der Begriff enthistorisiert und aufs je Individuelle eingeschränkt. Der Versuch, ihn für den Marxismus und dessen E einer solidarischen Gesellschaft fruchtbar zu machen, muss zuerst die geschichtlichen Bedingungen und theoretischen Konsequenzen dieses Ansatzes klären.
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