Ich
A: al-’anā. – E: I, me. – F: je, moi. – R: Ja. – S: yo. – C: ziwo 自我
Jürgen Stahl
HKWM 6/I, 2004, Spalten 575-588
»Ich« sagen zu können, »erhebt« den Menschen kraft des darin ausgedrückten Selbstbewusstseins für Kant »unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen« (Anthrop). Die Inanspruchnahme des Ich markiert nach Oskar Negt eine der beiden ersten kopernikanischen Wenden, »welche die Schwellenzeit zur Selbstkonstitution der bürgerlichen Welt bestimmen«. Die »Sonne und das Ich rücken ins Zentrum des neuzeitlichen Weltverständnisses«, und »Arbeit« wird »zur Schlüsselkategorie« (2001). Letzteres allerdings erst bei Marx, der zugleich das Ich als entnaturalisiert und als unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen historisch Gewordenes begreift. In der Tat folgt die Abstraktion der Sprechenden in der Sprache, wie Erich Wulff in seinen Beobachtungen zur transkulturellen Psychiatrie zeigt, den Grundmustern der gesellschaftlichen Beziehungen, so dass es unter Bedingungen hierarchisch-verwandtschaftlicher Sozialstrukturen, in denen das Individuum noch nicht die Nabelschnur zur Gemeinschaft durchtrennt hat, keine besondere grammatikalische Position ›Ich‹ gibt (1969). Ernst Blochs Vorspruch zu seinen Spuren, »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst« (…), deutet auf die Widersprüchlichkeit des Selbstverhältnisses vom andern Ende her: die sich in die Ich-Form emanzipierenden Individuen verlieren sich darin auch und kommen erst zu sich im werdenden Wir, in Verhältnissen, in denen „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Manifest).
Gegen die spekulative Konstruktion eines geschichtsmächtigen Subjekts und dessen Abstraktion im I-Begriff setzen Marx und Engels die Analyse der wirklichen Geschichte und deren Handlungsträger. Dabei entwickeln sie ein Begriffsfeld, in dessen Zentrum die Erklärung der objektiven sozialökonomischen, politischen und ideologischen Voraussetzungen und Bedingungen geschichtlichen Handelns stehen. Gesellschaftstheoretisch wie praktisch-politisch wurde dieser Aspekt prägend für weite Teile der sozialistischen Bewegung im 19. und 20. Jh.: Während das Ich als Ausdruck eines dekadenten bürgerlichen Individualismus präjudiziert erschien, sollte die Individuation im Bewusstwerden der objektiven Klassenlage und -ziele sich vollziehen, das Ich sich im ›Kollektiv‹, dem vergesellschafteten sozialistischen ›Wir‹ aufheben. Doch erwies sich dieses als ein nicht minder abstraktes politisch-ideologisches Konstrukt, dem die Realität des Ich in seiner bornierten Gestalt von ›Privat geht vor Staat‹ gegenüberstand, weil das ›Wir‹ durch befehlsadministrative Strukturen durchkreuzt wurde. Volker Braun spricht deshalb von der »künstlichen Steigerung des braven Ich zu einem behaupteten WIR« als einem »Phantom der Gemeinschaft« (Rimbaud, 1989).
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