Internet
A: al-ʼintirnit. – C: hùliánwǎng 互联网
Rainer Rilling (I.), Günter Mayer (II.)
HKWM 6/II, 2004, Spalten 1445-1464
I. Das I ist ein ursprünglich aufs Telefon aufsetzendes großtechnisches System, das lokale Computer bzw. Computernetzwerke zu einem globalen »internetwork« integriert (den Ausdruck etablierten 1974 Bob Kahn und Vinton Cerf; vgl. Hafner/Lyon 2000). Jedes Gerät erhält dabei einen eigenen Adress- bzw. Namensraum und wird mit anderen Geräten durch ein einheitlich gültiges Protokoll zur Weiterleitung von Datenpaketen (Transmission Control Protocol/Internet Protocol – TCP/IP) zu einem übergreifenden Netzwerk heterogener Netzwerke verknüpft. Im Alltagsverständnis werden häufig alle global verbundenen Datennetzwerke, Anwendungen und deren technische Apparatur unter den Begriff I subsumiert (vgl. Cannon 2002).
Im Mittelpunkt der frühen internet dreams avantgardistischer Technikakteure standen postmoderne Raumkonzepte (Hyperraum, Informationsraum, Dataspace, Workspace, Virtualität). Die Rede vom Cyberspace (zuerst bei Gibson 1982) beschwor das eigenartig Neue, das mit dem I in die Welt gekommen ist. Die Frage, welche Rolle das Individuum in diesem neuen virtuellen Zusatzraum spielen würde, führte zu Konzeptionen der ›Posthumanität‹ und der Kyborgs (vgl. Haraway 1995; Gray 2002). Im Unterschied zu anderen technikbezogenen Sichtweisen ist hier die kritische Frage nach den Machtverhältnissen und damit nach Politik fast immer mitgedacht und utopisches wie dystopisches Denken angeregt worden (Capurro 1995; Stephenson 1992).
In den 1980er und 90er Jahren spiegelte sich die rasch ausgreifende Rolle des I in einer Fülle metaphorischer Neologismen wider, die ein eigenes kleines Wörterbuch füllen könnten (Netz, Markt, Datenautobahn, Sites, Domänen, Home, Hosts, Landscape, virtual community, digitale Stadt, global village, virtuelle Gesellschaft, Netzwerkgesellschaft, User, Surfer, Hacker, Newbies, Einsteiger, Lurkers, Freaks, Nerds, Digerati, Agora, Brain, Labor, Archiv, Bibliothek usw.). Durch das I sollte oppositionelle Selbstvergesellschaftung zur Alltagspraxis werden, zugleich aber wurde es Nährboden unkritischer Gesellschaftskonzepte (Informations- bzw. Wissensgesellschaft, Netzwerkgesellschaft). Die Ausschöpfung seines technischen Potenzials verlieh dem Kapitalismus neue Strahlkraft. Ende der 1990er Jahre war die Kraft dieser Metaphern jedoch weitgehend erloschen; das I als domestiziertes Alltagsmedium ähnlich dem Telefon oder Fernsehen bedurfte ihrer nicht mehr.
I wird nicht mehr als Raum, sondern als Netzwerk (›Matrix‹) und vor allem als ein Medium verstanden, das an die klassischen Massenmedien anschließt. Multimedialität, neuartige Informationstiefe durch praktisch unbegrenzte Speicherkapazität, Aktualität, Authentizität und Selektivität sowie die Ermöglichung polydirektionaler und interaktiver Deliberation statt bloßer Distribution sind die Stichworte, die seine Spezifik beschreiben. In den medialen Verhältnissen, welche die Menschen zueinander eingehen, fungiert das I unterschiedlich: als kulturelles Pushmedium, das nach dem Kanalmodell des Fernsehens gedacht wird, als politisches Medium interaktiver Selbstverständigung der Öffentlichkeit, als Medium ökonomischer Transaktionen, bes. digitaler Ware-Geld-Beziehungen.
II. Die frühe I-Praxis war zunächst stark von gegenkulturellen Bewegungen der späten 1960er und 70er Jahre und den ihnen eigenen ästhetisch-künstlerischen Aktivitäten geprägt. Daraus gingen in den 80er Jahren geradezu euphorische Visionen künftiger gesellschaftlicher Emanzipation hervor. So propagierte Gene Youngblood, der sich seit 1961 vor allem mit dem computeranimierten Video und Film beschäftigt hat, eine Nutzung der bereits existierenden Netzwerke der Telekommunikation, um die Begrenzungen der physischen Existenz und Wirkungsmöglichkeit aufzuheben, die alternative soziale Welten (Minderheiten, revolutionäre oder gegenkulturelle Bewegungen) in den physikalischen Räumen erfahren. Möglich seien nun »Realitätssozietäten […], die nicht durch ihre geographische Lage, sondern durch ihr Bewusstsein, ihre Ideologien und ihr Begehren definiert sind. Diese Utopie verspricht die Vollendung jener Revolutionierung der Kommunikation […] von Kultur und Bewusstsein, die […] seit bereits einer Generation unser Leben von Grund auf verändert« (1991). Die entworfene Perspektive zielt darauf, »das revolutionäre Projekt der historischen Avantgarde gleichsam zu Ende« (…) zu führen. Mit Bezug auf die »Mobile-Image«-Projekte der US-amerikanischen Künstler Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz und die Meta-Medien, die eine neue kulturelle Praxis, das Metadesign (die Gestaltung der Umwelt zur Entwicklung von Kontexten, nicht von Inhalten), ermöglichen, hat Youngblood den Typ eines »Renaissance-Amateurs« vor Augen: »Mitglied einer kulturellen Verschwörung, ein für eine bestimmte soziale oder politische Bewegung eintretender Widerstandskämpfer« (…). Damit werde eine »Allianz zwischen dem traditionellen Künstler und dem neuen Künstler in Gestalt des sozialen Metadesigners« möglich (…). Im Sinne der von der historischen Avantgarde intendierten Einheit von Kunst und Leben würde dadurch eine neue soziale, kulturelle und politische Macht, eine echte Avantgarde (»oder ›avant-guerre‹«) entstehen (…): Solidarität, Selbstorganisation und Sezession seien die Charakteristika dieser Avantgarde, der es nicht um die Vision einer künftigen Zivilisation schlechthin gehe, sondern um die »Ermächtigung bereits existierender Rand-Kulturen« (…). Der Haken dieser euphorischen Vision ist die ungelöste Eigentumsfrage: sie erscheint als nur abstrakt geforderte Grundvoraussetzung zur Realisierung des Ganzen, als Frage des freien Zugangs sowohl im persönlichen Bereich wie in Hinsicht auf die öffentlichen technischen Einrichtungen (vgl. auch Claus 1985).
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