Krise
A: azmah. – E: crisis. – F: crise. – R: krizis. – S: crisis. – C: weiji 危机
Frigga Haug (I.), Wolfgang Küttler (II.)
HKWM 7/II, 2010, Spalten 2121-2146
I. K.n lassen sich als Zwischenzeiten begreifen, in denen die gewohnte Ordnung nicht mehr funktioniert, aber noch keine neue Regelungsweise gefunden ist. Eine große Unordnung wird als K wahrgenommen, dies sowohl in der Wirtschaftsweise als auch in ihrer politischen Regulierung, in Bezug auf die handelnden Akteure und die Denkformen. Als System-K kann sie alle Dimensionen zugleich betreffen. Sie kann auch bloß in einzelnen gesellschaftlichen Sektoren auftreten. Dafür gibt es eine Vielzahl von Benennungen: die politische, die persönliche, die Bildungs-, die Legitimations-K, die K des Marxismus ebenso wie die des Gesundheitssystems. Marx etwa behandelt nacheinander die Kredit- und die Geld-K, Produktions-, Wirtschafts-, Handels-K usw. Die Gemengelage macht es zum Problem, ein Gemeinsames aller K.n herauszuarbeiten.
Indem eine K das Gewohnte aus den Halterungen reißt, kann in ihr ein Neuanfang gemacht und eine Neuordnung versucht werden. Deren Gelingen ist abhängig von den Kräfteverhältnissen, v.a. von der Handlungsfähigkeit der organischen Akteure. Eine K kann ebenso eine Revolution anbahnen und die alten Formen zerstören, wie zu verschärfter Restauration führen. K-Bekämpfung kann u.U. Öl ins Feuer gießen oder die Lage vorübergehend beruhigen, bis eine Große K die Dämme sprengt. »Wodurch überwindet die Bourgeoisie die K.n?«, fragt Marx im Manifest und antwortet: »Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere K.n vorbereitet und die Mittel, den K.n vorzubeugen, vermindert.« (…) Die K ist in jedem Fall eine Aufforderung, die Kräfte zu reorganisieren. Für jede Befreiungstheorie ist der Begriff K elementar, denn die Wendungen und Veränderungen, auf die sie setzt, müssen allesamt zugleich als K verstanden werden. – K wird im Folgenden abgehandelt als Problematik in den Produktionsverhältnissen, in den Subjekten und in den Denkformen.
II. Lenin erklärt es nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der damit verbundenen Spaltung der Arbeiterbewegung für vordringlich, »die Ursachen der sozialistischen K klarzulegen«; dies sei die wichtigste Aufgabe für »den, der Sozialist bleiben will«, wobei es das »schlimmste an der jetzigen K ist, dass bei den meisten offiziellen Vertretern des europäischen Sozialismus der bürgerliche Nationalismus, der Chauvinismus gesiegt hat« (…). Dagegen zielt er auf die Verwandlung des Krieges in einen revolutionären Bürgerkrieg. Er begründet dies mit einer K-Konzeption, in der Imperialismus, Krieg und Revolution zusammen genommen das Endstadium des Kapitalismus und die »Ära der proletarischen, sozialistischen Revolution« ausmachen (…). Mit diesem ökonomisch begründeten Epochenbegriff legitimiert Lenin auch seine Wende zur Strategie des unmittelbaren Fortschreitens von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution in Russland nach dem Sturz des Zarismus. »Die K ist so tiefgehend, so weit verzweigt, so weltumspannend, ist so eng mit dem Kapital verknüpft, dass der Klassenkampf gegen das Kapital unvermeidlich die Form der politischen Herrschaft des Proletariats und der Halbproletarier annehmen muss.« (Mai 1917)
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