Mestizaje

A: tamāzuǧ al-’aǧnās. – E: miscegenation. – F: métissage. – R: metisacija. – S: mestizaje. – C: màisīdìsuǒhuà, hùnhé 麦斯蒂索化, 混合

Javier Sigüenza (DG/RG)

HKWM 9/II, 2024, Spalten 2331-2348

Der span. Begriff M (wörtlich: Mischung, Kreuzung) gehört nicht zum Instrumentarium des Marxismus, stellt aber eine theoretische Herausforderung für ihn dar: die Frage der Interkulturalität. Sie ist, so Raúl Fornet-Betancourt, nicht Resultat einer »neuen philosophischen Mode«, sondern »eine der unerledigten Aufgaben« in der lateinamerikanischen Philosophie (2005, 11f; Übers. korr.). Mit ihr geht eine »Forderung nach kultureller Gerechtigkeit« einher, die »seit Jahrhunderten in der Sozial- und Geistesgeschichte Lateinamerikas erhoben wird« (12).

Da Mestizen vielfach uneheliche Kinder waren, die oft in Situationen kolonialer Gewalt gezeugt wurden, war das Wort M zunächst abwertend konnotiert. In der vertikalen Gesellschaftsstruktur der Kolonialzeit wurden Mestizen stigmatisiert und nach sozio-ökonomischen und ethnischen Kriterien aus dem politischen Leben ausgegrenzt. Mit der Unabhängigkeit und der anschließenden Gründung der lateinamerikanischen Nationalstaaten im 19. Jh. wurde die Figur des Mestizen im nationalistischen Diskurs als neues gesellschaftliches und geschichtliches Subjekt aufgewertet.

So stellte Simón Bolívar programmatisch fest: »Wir sind keine Europäer, wir sind keine Indios, sondern eine mittlere Spezies zwischen den Ureinwohnern und den Spaniern« (1819/1978, 8). Ähnlich äußerte sich José María Morelos: Die Bewohner Amerikas, ausgenommen »die Europäer«, seien »nicht als Indios, Mulatten oder Angehörige anderer Kasten, sondern allgemein als Amerikaner« zu bezeichnen (1810/2021, 65). Obwohl Bolívar und Morelos nicht auf Zuschreibungen wie Criollo (womit die Nachkommen von Europäern auf amerikanischem Boden gemeint sind, aus deren Reihen sich nach der Unabhängigkeit im 19. Jh. die herrschende Klasse rekrutiert) und Indio verzichten konnten, stellten ihre Äußerungen die »auf Kasten basierende koloniale Vorstellungswelt« in Frage (Zermeño Padilla 2017, 286).

In der ersten Hälfte des 20. Jh. universalisierte José Vasconcelos in La raza cósmica das Konzept M und gab ihm eine philosophische Dimension. Seine »zentrale These« lautet, »dass die verschiedenen ›Rassen‹ [razas] der Welt dazu neigen, sich mehr und mehr zu vermischen, bis sie einen neuen Menschentypus bilden«, nämlich »die zukünftige Kosmische ›Rasse‹« (1925/2012, XV). Generell erfolgte die »intellektuelle Schöpfung« des Begriffs M zwischen 1850 und 1950 zu einer Zeit, »als Lateinamerika versuchte, sich gegenüber anderen Regionen oder Kontinenten als eine ethnische [racial] und kulturelle Einheit zu begreifen« (Zermeño Padilla 2017, 262). Diese moderne Auffassung von M setzte die Abschaffung einer »bestimmten Vorstellung von ›Blutreinheit‹« voraus und maß »›rassischen‹ [raciales] und kulturellen Unterschieden« zugleich eine gewisse Bedeutung bei (293). Dennoch ging diese Konstruktion von M auf Kosten der indigenen und afroamerikanischen Identitäten, auch wenn sie theoretisch Teil des Konzepts sind. Das Versprechen, die mit den ›rassischen‹ Unterschieden verbundenen sozialen Ungleichheiten aufzuheben, blieb uneingelöst. Stattdessen wurden Ausbeutung, Herrschaft und Ausgrenzung in Bezug auf Klasse, ›Rasse‹ und Geschlecht durch das Konzept verschleiert.

Bolívar Echeverría zufolge etablierte sich die M in vielen Ländern Lateinamerikas, v.a. in Mexiko, als »Ideologie des offiziellen lateinamerikanischen Nationalismus«, die auf die »Konstruktion einer einzigartigen oder zumindest einheitlichen künstlichen Identität für die Staatsnation« abzielt (1995/2021, 221) und damit der kapitalistischen Form der Moderne entspricht. Dagegen schlägt Echeverría eine kritische Umdeutung von M vor, die die gesellschaftlichen und geschichtlichen Konflikte ebenso sichtbar macht wie die verschiedenen Formen des Widerstands der Beherrschten gegen die Homogenisierungstendenzen der kapitalistischen Moderne. So »beginnen und vollziehen im amerikanischen Spanien des 17. Jh. die [von der spanischen Krone] Unterworfenen als Erste den Prozess der codigofagia: Der [kulturelle] Code der Herrschenden transformiert sich selbst, indem er die Überreste des [kulturellen] Codes der Beherrschten in sich aufnimmt« (1998, 55). In Abgrenzung zum Multikulturalitätsdiskurs, demzufolge wir uns stets »bis zu einem gewissen Grad« gegenseitig »tolerieren« und »ertragen« müssen, bestehe in einer kritisch gewendeten kulturellen M die Herausforderung darin, »uns gegenseitig wirklich grundlegend und grenzenlos zu verändern« (2001/2021, 31). Die kulturelle M eröffne damit die – wenn auch noch unterdrückte – Möglichkeit einer alternativen Moderne.

Anthropologie, Antikolonialismus, Emanzipation, Entkolonisierung, Ethnie/Ethnizität, Ethnologie, Ethnozentrismus, Eurozentrismus, Gegenkultur, Gewalt, Herrschaft, Identifikation, Identität, Identitätspolitik, Imaginäres, Imperialismus, Indiofrage, innerer Kolonialismus, Kaliban, Kaste, Kolonialismus, Krieg der Kulturen, Kultur, Kulturimperialismus, Kulturstudien (Cultural Studies), Malinchismus, Mariateguismus, Martianismus, Mexikanische Revolution, Moderne, Modernisierung, multikulturelle Frage, multikulturelle Politiken, Muralismus, Mythos, Nation, national/nationalistisch, nationale Minderheiten, nationale Spezifik, Nationalstaat, Postkolonialismus, Rasse/Klasse/Geschlecht, Rasse und Klasse, Rassismus, Semiotik, Sozialisierung, Sprache, Subalternität, Universalismus, Unterdrückung, Unterwerfung, Vermittlung, Zapatismus, Zivilisation

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m/mestizaje.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/05 23:39 von christian     Nach oben
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