Materialanalyse
A: taḥlīl al-māddī. – E: material analysis. – F: analyse de matériaux. – R: analiz materiala. – S: análisis del material. – C: cáiliào fēnxī 材料分析
Jan Loheit
HKWM 9/I, 2018, Spalten 113-128
Im Umfeld der westberliner Zeitschrift Das Argument entstand in den 1970er Jahren ein methodisches Verfahren, das als M bezeichnet worden ist. Inspiriert von Konzepten der »Materialästhetik«, die Werner Mittenzwei (1976) am Beispiel von Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Sergei Tretjakow und Sergei Eisenstein untersuchte, wandte man sich gegen eine verbreitete Form von ›Parteilichkeit‹, die das untersuchte Material ins Ordnungsschema fix und fertiger Theorien presst. Mit Marx sollte die sich entwickelnde M eine Methode überwinden, die zwar »den massenhaften Stoff von allen Seiten« aufnimmt, ihn aber für ihre »Zwecke […] als gleichgültiges Material« verarbeitet; den Quellpunkt der M hingegen bildet kein ›System‹, sondern das »eigentümliche Leben« des Stoffs (42/8).
Für Wolfgang Fritz Haug, den Gründer des Argument, belegen die Studien Walter Benjamins, dass die Bedeutung des im Künstlerkreis um Brecht verwendeten Materialbegriffs »keineswegs auf die Ästhetik beschränkt« ist (1989b, 21), da mit ihm »das Suchen nach einem neuen Zugang zur Wirklichkeit verbunden« war (Mittenzwei 1976, 179). Die M versteht sich als eine »aktive Lektüre« (Haug 1989b, 20) von Texten, die »dem allzu umstandslos sich anbietenden ›Sinn‹« misstraut und die Art seiner »Artikulation« beleuchtet (21). Sie untersucht die Formen, die dem Material aufgeprägt worden sind. Zu diesem Zweck werden Texte in »Mosaiksteinchen« zerlegt, »um dann wie ein Puzzle, nach ihrer Material-Logik, zu einem Gesamtbild zusammengesetzt zu werden« (20), in dem die soziale Standpunktlogik der vorgefundenen Material-Organisation – ggf. im Widerspruch zur Eigenlogik des Materials – ans Licht kommt.
Die M verlangt eine ›Kunst des Zitierens‹, die, wie Antonio Gramsci und Benjamin vormachten, das Material aus dem in den Texten vorgefundenen Bedeutungszwang befreit. »Vom Material ausgehend, experimentieren wir mit theoretischen Annahmen und unterziehen diese der Wirklichkeitsprobe.« (W.F.Haug 2012, 21) Vorausgesetzt ist auch hier, dass einzig »begriffliches Denken« in der Lage ist, die Fülle des Materials zu durchdringen und »Information zum Wissen zu erwecken« (20). Diese Einsicht leitet die Materialstudien, die, ausgehend von Topossammlungen, die implizit gebliebenen Überzeugungen, Interpretationen und operativen Strategien der untersuchten Texte auseinanderlegen, um das »Gemachte, gezielt Perspektivische der Auswahl und Anordnung« der Materialien in den Blick zu rücken (Rehmann 2004, 142). In Verbindung mit dem von Frigga Haug initiierten Projekt der »Erinnerungsarbeit« dient die M schließlich als unterstützende Methode, die eigene Erinnerung »mit einer Art undogmatischer Respektlosigkeit […] zur Besichtigung aufzubereiten« (1983, 21).
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