materiell
A: māddī. – E: material. – F: matériel. – R: material’nyj. – S: material. – C: wùzhì de 物质的
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 9/I, 2018, Spalten 308-315
Lat. materialis, »zur Materie gehörig«, wird von Georges (II, 827) bei zwei spätantiken Autoren (Macrobius und Ambrosius) nachgewiesen, die beide im Mittelalter viel rezipiert worden sind. Von dort wandert das Wort in handwerkliche und gelehrte Fachsprachen ein. Wie für »Materie«, das »in mehrfachem schwanken der form« auftritt, weist Grimm fürs 16. Jh. u.a. die Adjektive »materisch« (Keisersberg 1517) und »materlich« (Paracelsus 1590) für »körperlich, stofflich« nach. Wohl unterm Einfluss des Französischen hat sich dann die moderne Form »m« im Deutschen befestigt.
In der Umgangssprache steht m für unterschiedliche Bedeutungen, deren unreflektierter Eingang in die Theoriesprache zu Konfusionen führt. Das Fremdwörterbuch der DDR (Klien u.a. 1960) verzeichnet: »stofflich, sachlich, körperlich; die Materie betreffend; handgreiflich, fassbar; auch auf Gewinn eingestellt, genusssüchtig«, schließlich für m.en Schaden »Vermögensschaden«. Für die Popularphilosophie des gesunden Menschenverstands ist m etwas Physisch-Stoffliches, das für die Augen sichtbar und mit den Händen berührbar ist. Die Daseinsform, die man ihm zuzuordnen pflegt, ist das Ding oder die Sache, jedenfalls ein stofflicher Gegenstand, der sich (sei es auch mit optischen und haptischen Hilfsmitteln) betrachten und berühren lässt. Komplementärer Gegenbegriff ist dann das Immaterielle, speziell das Ideelle. Zunächst sind das die Gedanken, sodann aber das Gedachte, soweit es der Sinneswahrnehmung unzugänglich ist. Diese gedachte Sphäre bevölkern Volksphantasie und ihre Dichter und Denker mit immateriellen Existenzen.
Wenn Thomas Tooke in An Inquiry into the Currency Principle in Bezug auf den Austausch von Banknoten von »einer m.en, nicht fingierten Abtretung« spricht, so meint er einfach »eine wirkliche Abtretung« (1844, 34ff; zit.n. K II, 24/472). Wenn Max Weber von Gerichtsurteilen spricht, »die auf formal korrekten, aber m unkonstitutionellen Gesetzen beruhen« (1906, GA I.10, 127f), dürfte er den ›materialen‹ (im Sinne des lat. materialiter) Gesetzesinhalt im Unterschied zur Gesetzesform meinen. – Im Bann des Kapitalismus heftet sich an den Ausdruck m bes. die Bedeutung eines Einkommens in Geldform. Wenn Pierre-Joseph Proudhon in Was ist das Eigentum? sagt, Talent könne »nicht m aufgewogen werden« (1841; zit.n. HF, 2/49), so meint er ›finanziell‹. Insgesamt bleibt der Term diffus, respektiert diskret das ungeschriebene Gesetz, dass man ›über Geld nicht spricht‹. Weber setzt m hinzu, wo er das angelsächsische »make a living« eindeutscht als »sein Leben (materiell) aus etwas machen« bzw. seine »Subsistenz« aus etwas ziehen (vgl. WuG, 119). Wenn er »am Gesellschaftszweck m oder ideell Interessierte« (208) unterscheidet, kann das ›m Interessierende‹ auch Machtzuwachs bedeuten, der sich erst mittelbar ›zu Geld machen‹ lässt.
Vom wissenschaftlich-philosophischen Standpunkt lässt sich zunächst festhalten, dass das Denken mit seinen Gedankendingen »stets von M.em genetisch, physiologisch oder auch technisch abhängig bleibt« (Wittich 2004, 818). Nichts hat spontane Philosophie mehr erschüttert als die Entwicklung der Naturwissenschaften. Stoff und Energie mussten als ineinander transformierbare Formen des M.en anerkannt werden. Wie schon Hegel den Alltagsverstand mit seiner Bestimmung des Lichts als »unkörperliche, ja immaterielle Materie« durcheinandergebracht hat (Enz, II, §276; W 9, 119), spielt Albert Einsteins berühmte Formel E = mc2 (1905) innerhalb der ›m.en Welt‹. Auch das Bohrsche Atommodell (1913) mit dem positiv geladenen Kern, der – wie die Sonne von den Planeten – in einem ansonsten ›leeren‹ Raum von negativ geladenen Elektronen umkreist wird, überstieg den Bezug zu einem stofflichen Gegenstand der Lebenswelt und Erfahrung. Seither hat die weitere Erforschung der subatomaren Wirklichkeit die Beschränkung des M.en aufs Stoffliche vollends gesprengt. Doch der allgemeine Sprachgebrauch ist dem nicht gefolgt.
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