Multitude
A: al-ǧumhūr. – E: multitude. – F: multitude. – R: množestvo. – S: multitud. – C: zhūzhòng 诸众
Jan Rehmann
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1598-1614
M ist ein v.a. von Antonio Negri und Michael Hardt in spezifischer Bedeutung neu eingeführter Terminus, dessen lat. Ursprungswort multitudo und seine Derivate (wie ital. moltitudine, span. multitud, engl. multitude) im Deutschen gewöhnlich mit Menge oder Vielzahl wiedergegeben werden. Die Bedeutung überschneidet sich auch mit der von Masse, die freilich eine eigene etymologische Linie bis zurück zu lat. massa (Klumpen, Haufen) und griech. μᾶζα (Teigmasse, Menschenmenge) aufweist (vgl. Labica 1986, 851; Cori 2018, 15f). Die Entscheidung, in der deutschen Übersetzung von Multitude (2004) statt der im Deutschen gebräuchlichen Wörter den Anglizismus M zu verwenden, hat – ähnlich wie bei den anderen Buchtiteln Empire (2000), Common Wealth (2009) und Assembly (2017) – dazu beigetragen, dem Ausdruck den Glanz des Neuartigen, Exotischen und Geheimnisvollen zu verleihen.
Entsprechend ist der Terminus mit weitreichenden Versprechungen aufgeladen. Dass der M-Diskurs zu Beginn des 21. Jh. für einige Zeit eine solche Begeisterung entfacht hat, kann als Problemanzeige der Defensive der Linken verstanden werden. Entstanden ist er im Kontext einer weitreichenden Niederlage progressiver Kräfte im Übergang vom Fordismus zum neoliberalen Hightech-Kapitalismus, die von Negri und anderen Postoperaisten in einen Sieg umgedeutet wurde. Die industrielle Arbeiterklasse geriet in eine Krise, ihre Gewerkschaften verloren fast überall an Einfluss, wie diese passten sich auch die sozialdemokratischen Parteien mehrheitlich an den Neoliberalismus an, die kommunistischen Organisationen versanken in Bedeutungslosigkeit. Oppositionelle Bewegungen und Bündnisse verloren an Kohärenz und fluktuierten instabil und kurzlebig, ohne dass sich die Konturen eines neuen hegemoniefähigen Subjekts sozialistischer und ökologischer Transformation abzeichneten.
Unter diesen Bedingungen konnte das Versprechen, die M erfasse alle dem ›Empire‹ unterworfenen Klassen und Gruppen in ihrer Vielfalt und überwinde dabei die Spaltungen zwischen Arbeiterschaft und ›Lumpenproletariat‹, ›männlicher‹ Lohnarbeit und ›weiblicher‹ Reproduktionsarbeit usw., wie eine Droge wirken. Als Kernstück eines »postsozialistischen Programms«, das auf einem »ontologischen Bruch mit den alten Arbeiterbewegungen, ihren Organisationen und ihren Modellen für die Gestaltung der Produktion« basiert, soll der Term M helfen, die Linke neu zu beleben (Hardt/Negri 2004, 247). Während der Begriff »Volk« die Verschiedenheiten auf »eine einzige Identität« zurückführe und der Begriff »Arbeiterklasse« – entweder im engen Sinn als »Industriearbeiter« oder im weiteren Sinn als »Lohnarbeiter« – »exkludierend« sei (10), indem er z.B. weibliche Reproduktionsarbeit und Erwerbslose ausschließe (124), sei die M »ein offenes und inkludierendes Konzept« (11). Sie bezeichne »Singularitäten, die gemeinsam handeln« (123), ohne dabei eine politische Vorrangstellung aufgrund einer bestimmten Form der Arbeit zu proklamieren (125). Sie unterstelle kein homogenes und vereinheitlichtes Subjekt, sondern verweise auf eine »irreduzible innere Vielfalt«: »Die M, das sind immer viele, das ist immer ein Schwarm« (2018, 356), der »konzertiert agiert«, wie ein »Orchester ohne Dirigenten […], das durch ständige Kommunikation den eigenen Takt bestimmt« (2004, 371f). Der Orchester-Vergleich lässt freilich unberücksichtigt, dass Konzerte i.d.R. eine Partitur benötigen. Christoph Türcke zufolge haben Hardt und Negri die im neoliberalen Kapitalismus erzeugten Figurationen des »digitalen Schwarms« und eines vermeintlich horizontalen Netzwerks zur M aufgewertet und »noch einmal mit allen revolutionären Hoffnungen aufgeladen, die im marxistischen Diskurs früher dem Proletariat galten« (2019, 198, Fn. 29; vgl. 215, Fn. 41).
Marx weist in der Einl 57 den Gedanken zurück, seine KrpÖ mit der vermeintlich realen und konkreten »Bevölkerung« zu beginnen, die in Wirklichkeit nur eine »chaotische Vorstellung des Ganzen« sei und erst nach ihrer analytischen Zerlegung in »einfachere Begriffe« als »Zusammenfassung vieler Bestimmungen« rekonstruiert werden könne (13/631f). Dies trifft auch für die M zu, die zudem weitaus weniger empirisch zugänglich ist als die nationalstaatlich gefasste Bevölkerung. Die Herausforderung für eine marxistische Analyse liegt darin, dass Hardt und Negri für die M den Status eines Klassenbegriffs beanspruchen, der der ›biopolitischen‹ Produktionsweise des transnationalen Kapitalismus entsprechen soll. Der Attraktivität des Ansatzes stehen gravierende theoretische Schwächen gegenüber, die es erforderlich machen, sorgfältig zwischen Realitätsgehalt und Illusionsproduktion zu unterscheiden und die Kategorie der Vielen präzisierend in analytische Begriffe zu übersetzen.
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