Muralismus
A: fann al-ǧidārīyāt. – E: muralism. – F: muralisme. – R: muralizm. – S: muralismo. – C: (Mòxīgē) bìhuà yùndòng (墨西哥)壁画运动
Alberto Híjar Serrano (RG/PJ) (I.), Ruedi Graf (II.)
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1625-1649
Der M als politisch-ästhetische Strömung geht aus dem massenhaften politischen und militärischen Engagement von Künstlern während der Mexikanischen Revolution hervor und drückt ein neues kollektives Bewusstsein aus, das sich in den Kämpfen der Revolution herausgebildet hat. »Die Revolution«, so Octavio Paz, »offenbarte uns Mexiko. Besser gesagt, sie gab uns die Augen zurück, es zu sehen. Und sie gab sie vor allem den Malern, den Dichtern und den Romanschriftstellern zurück.« (1978/2001, 716) Dieses neue Bewusstsein sucht einen Ursprung und verortet ihn in der präkolumbianischen Vergangenheit, sucht eine neue Einstellung zu den Volksmassen und findet sie in der Integration der indigenen Bevölkerung in die nationale Geschichte. Dieser Prozess entspricht dem, was Gramsci »Kampf für eine ›neue Kultur‹« (Gef, H. 23, §6, 2111) als »eine kohärente, einheitliche und national verbreitete ›Auffassung vom Leben und vom Menschen‹« (§1, 2105) nennt, aus der »eine neue Empfindungs- und Sichtweise der Wirklichkeit«, eine neue Welt mit ihren »›möglichen Künstlern‹ und […] ›möglichen Kunstwerken‹« (§6, 2111) hervorgeht.
Mit der Kultur- und Bildungsoffensive von José Vasconcelos, der in der Regierung von Álvaro Obregón von 1921 bis 1924 Bildungsminister ist, wird der M Teil eines staatlichen Programms zur Förderung einer Kunst, die ihren Platz nicht im Museum, sondern in der Öffentlichkeit haben soll – dort, wo sich die Vielen treffen. Vasconcelos’ Programm einer ›ästhetischen Sensibilisierung‹ zielt auf die Schaffung eines Subjekts ›Volk‹ unter Einschluss der indigenen Bevölkerung, die nun Teil der nationalen Geschichte wird. Doch der M reduziert sich nicht auf ein staatliches Erziehungsprogramm, er ist in seinen Ausdrucksformen und Frontstellungen so vielfältig und zersplittert wie die Mexikanische Revolution selbst. Er versteht sich auch als Ausdruck des Kampfs der Arbeiter und Bauern, deren Hoffnungen, die während der Revolution mehrmals enttäuscht wurden, in den murales (Wandbildern bzw. Wandgemälden) fortleben. Mit seinem antikolonialen und antiimperialistischen Impuls wird er zum Künder eines neuen, modernen Amerikas, das die akademischen Formen der europäischen Kunst – sofern sie als das kulturelle Ideal der alten Latifundistenklasse verstanden werden können – entschieden zurückweist.
Ähnliche Phänomene wie im mexikanischen M lassen sich in verschiedenen Revolutionen des 20. Jh. beobachten, angefangen bei der Oktoberrevolution. Diese bringt zwar keinen M hervor, aber – wie die Mexikanische Revolution – das Bedürfnis nach einer Kunst, die dem geschichtlichen Moment eine mächtige Bildsprache zur Verfügung stellt, an einem neuen Publikum Maß nimmt und über die Zerschlagung der Akademien ein neues Verhältnis von Kunst und Volk herzustellen sucht. Zur Feier des ersten Jahrestags der Revolution lassen die Künstlerinnen und Künstler ihre Bilder auf riesige Leinwände übertragen und schaffen Plakate und Banner, die durch die Stadt getragen werden. Wladimir Majakowskis Vers aus dem Tagesbefehl Nr. 2 an die Kunstarmee – »Straßen sind unsere Pinsel, Plätze sind unsere Paletten« (1921/1985, 286) – lässt an die Praxis des M der Mexikanischen Revolution denken.
Der M wird v.a. in Lateinamerika ein Vorbild für revolutionäre Kunst. Er spielt in der Kubanischen Revolution, der sandinistischen Revolution in Nicaragua und bei der Erhebung der Zapatisten im mexikanischen Bundesstaat Chiapas eine Rolle. In Chile schafft sich die Bewegung innerhalb der Unidad Popular ihren eigenen M, der erst im Laufe seiner Entfaltung den mexikanischen M neu entdeckt. Trotz der Vielfalt seiner unterschiedlichen nationalen Ausprägungen lässt sich das Phänomen des M am mexikanischen und chilenischen Beispiel in seinen Hauptzügen untersuchen.
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