Holokaust
A: al-maḥraqa; al-hulukust. – E: Holocaust. – F: holocauste. – R: golokaust. – S: holocausto. – C: datusha 大屠杀
Moshe Zuckermann
HKWM 6/I, 2004, Spalten 492-501
Dass Nomenklatur ideologisch werden kann, hat nicht nur mit der epistemologischen Krise hinsichtlich des Adäquanzverhältnisses von Gegenstand und Begriff bzw. von Benennung und Benanntem zu tun, sondern die Benennungspraxis selbst schreibt sich ein in agonale Grabenkämpfe, bei denen Geschichte, Welt und Wirklichkeit, wenn schon nicht ganz und gar ignoriert, so doch nicht selten in die Zweitrangigkeit des Epiphänomens verwiesen werden. Ideologisch kann Benennung aber auch dann werden, wenn sich im Namen die bewusste, aber eben auch nicht nur bewusste bzw. vorbewusst manipulative Verhüllung oder Entstellung des Benannten niederschlägt. Nomenklatur ist immer dann ideologisch, wenn der Nennungsbegriff das Benannte für heteronome Interessen so zurichtet, dass die Wahrnehmung des Benannten wesenhaft affiziert, der Gegenstand der Wahrnehmung mithin regelrecht unkenntlich gemacht wird.
Dabei hat der relativ neutrale Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg spätestens bei dem am europäischen Judentum verübten Völkermord seine Grenzen. Dies ist nicht allein dem Umstand geschuldet, dass sich im Geschichtsereignis, das als ›Weltkrieg‹ kodiert worden ist, mehr historische Tiefenschichten und materielle gesellschaftliche Strukturen sedimentiert haben, als der Begriff je zu indizieren vermöchte, sondern vor allem deshalb, weil mit der Massenvernichtung der Juden etwas geschichtlich Präzedenzloses eingetreten war, etwas, das zunächst namenlos bleiben musste, weil seine Unsäglichkeit der adäquaten Namensgebung entbehrte. Nicht von ungefähr ist in diesem Zusammenhang der diagnostische Begriff des »Zivilisationsbruches« (Diner 1988) geprägt worden. Allein schon die Vorstellung, dass der »Rückfall in die Barbarei« (etwa Bachof 1965; vgl. Haug 1987) durch die Zivilisation selbst bzw. durch die immanente Logik ihres neuzeitlichen Laufs gezeitigt worden war, musste deren optimistisch-lineares, aufklärerisch motiviertes Selbstverständnis ins Wanken bringen.
Bilderverbot und Namenstabu können nie wirklich durchgehalten werden. Die Umschreibungen, die zur Kennzeichnung der geschichtlichen Monstrosität entstanden, wie ›industrielle Massenvernichtung der Juden‹ oder ›Massenvernichtung des europäischen Judentums‹, waren kommunikationstechnisch unökonomisch. Bald etablierten sich namensförmige Bezeichnungen – etwa die frühzeitig konsensuell im Hebräischen eingeführte ›Shoah‹ oder das in Deutschland seit den 1950er Jahren als pars pro toto häufig gebrauchte ›Auschwitz‹. Bereits ›Shoah‹, als in der Sprache der Heiligen Schrift bedeutete ›höchste Katastrophe‹ bzw. ›totaler Untergang‹, belässt den innerhistorischen Kausalzusammenhang der Katastrophe im Unbestimmten; nicht nur mag sie gottgewollt sein, sondern auch unter säkularen Gesichtspunkten wäre im Hebräischen ›Shoah‹ als Bezeichnung von Auswirkungen einer verheerenden Naturkatastrophe zulässig. Als erst recht prekär erweist sich der übers amerikanische Englisch in den Nomenklaturdiskurs eingedrungene, ursprünglich altgriechische Begriff des ›Holocaust‹, der zwar die Bedeutung von ›Inferno‹, ›Zerstörung‹ und ›Massensterben‹ angenommen hat, ursprünglich jedoch ›vollständiges Brandopfer‹ (ὁλοκαύτωµα) bzw. ›völlig verbrannt‹ (ὁλόκαυ[σ]τοϚ) meinte. Wenn schon die religiöse Dimension eines quasi Unabwendbaren in Zusammenhang mit der jüdischen ›Shoah‹ mehr als problematisch erscheint, nimmt sie sich mit dem vom außerhebräischen Sprachduktus geprägten ›H‹ als höchst fragwürdig, wenn nicht gar schlechterdings ideologisch aus. ›Brandopfer‹ enthält nicht nur die latente Deutung von schicksalhafter Heimsuchung, sondern auch das Moment religiös durchwehter Sinngebung bzw. »perverser Sakralisierung« (Novick 1999).
Ob ›H‹ nun dem altgriechischen ὁλόκαυστον entnommen oder der Eindeutschung der Schreibweise des englischen Holocaust geschuldet ist, bleibt sich für die folgenden Erörterungen gleich (vgl. jedoch Frahm 2002). In jedem Fall soll hier nicht die Geschichte des historischen Ereignisses der Massenvernichtung des europäischen Judentums anvisiert werden. Gerade die einschneidende Bedeutung des Realereignisses für die Erfahrung und das Verständnis der modernen Zivilisation (gewisse philosophische Strömungen würden gar von der Zivilisation insgesamt reden wollen; vgl. Bauman 1989) macht es notwendig, dem Problem seiner ideologischen Vereinnahmung bzw. seiner instrumentalisierenden Ideologisierung nachzugehen. Der Begriff ›H‹ mag hierfür einstehen.
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